Review22. Mai 2025 Cineman Redaktion 3k12x
Review: «Santosh» – Wenn Ideale auf die Realität prallen 126r2n

In einem abgelegenen Dorf im Norden Indiens tritt eine junge Frau in die Fussstapfen ihres verstorbenen Mannes. «Santosh» ist ein stiller, aber eindringlicher Film, der soziale Ungleichheiten beleuchtet – verpackt in ein fesselndes Drama, das wie ein Thriller funktioniert, dabei aber nie in Klischees abrutscht.
von Laurine Chiarini; übersetzt aus dem Französischen
Santosh (grossartig gespielt von Shahana Goswami) ist 27 Jahre alt, als ihr – durch ein regionales Gesetz – der Posten ihres Mannes übertragen wird. Er war Polizist und kam bei einem Aufstand ums Leben. Sie will seinem Andenken gerecht werden, seinem Ruf als aufrichtiger und anständiger Mensch. Unterstützt wird sie von ihrer Vorgesetzten Sharma, einer resoluten Frau mit feministischer Haltung, die sich in einer Männerwelt durchgesetzt hat, in der das Kastensystem immer noch den Ton angibt.
Doch alles gerät ins Wanken, als Santosh den Fall eines toten Mädchens übernehmen soll – eine Dalit, eine sogenannte «Unberührbare», deren Leiche in einem Brunnen gefunden wird. Der Mord konfrontiert Santosh nicht nur mit der Gewalt gegenüber Frauen, sondern auch mit der grausamen Realität einer Gesellschaft, in der Herkunft, Geschlecht und Klasse über Wert und Würde entscheiden.
Man braucht weder Bollywood-Erfahrung noch Vorwissen über Indien, um «Santosh» zu verstehen. Die Geschichte ist universell. Visuell beeindruckend, dicht erzählt und emotional berührend, zieht der Film einen sofort in seinen Bann. Licht und Schatten, Blickwinkel und Nuancen – vieles in diesem Film geschieht zwischen den Zeilen. Genau das macht ihn so stark. Regisseurin Sandhya Suri, eine britische Filmemacherin mit indischen Wurzeln, wollte eigentlich eine Dokumentation drehen – doch der Zugang zur Polizei war unmöglich. Also schrieb sie ein Drehbuch, das näher an der Wahrheit ist als viele Fakten. Ihr Ziel: die Gewalt gegen Frauen und die systematische Ungerechtigkeit sichtbar machen – ohne Anklagegestus, aber mit Haltung.
Santosh glaubt an Gerechtigkeit. Sie will mit ehrlicher Arbeit etwas bewegen. Doch Schritt für Schritt verliert sie den Boden unter den Füssen – nicht weil sie scheitert, sondern weil das System sie scheitern lässt. Am Ende steht keine Katharsis, sondern eine bittere Erkenntnis.
Sharma, ihre Chefin, kennt diesen Weg. Vor dreissig Jahren musste sie selbst kämpfen, um als Frau in den Polizeidienst aufgenommen zu werden. Während Sharma viel redet, bleibt Santosh eher still. Ihre Stärke liegt im Blick, in Gesten, in Momenten des Schweigens – ein gehobenes Augenbrauen, ein fast unsichtbares Lächeln sagen oft mehr als Worte.
Neben den beiden grossartigen Hauptdarstellerinnen lebt der Film von seinen Nebenfiguren – viele davon sind Laiendarstellerinnen und -darsteller, was dem Film eine besondere Authentizität verleiht. Gewalt, Korruption und Unterdrückung gehören für viele zum Alltag – vor allem für Frauen, aber auch für Männer aus niederen Kasten oder religiösen Minderheiten.
Zur selben Zeit, in der Serien wie «Adolescence» (über toxische Männlichkeit) oder «Von Rockstar zum Mörder: der Fall Cantat» auf Netflix für Diskussionen sorgen, kommt «Santosh» in die Kinos. Er erinnert an den erschütternden Fall von 2012, als eine junge Frau in einem Bus in Neu-Delhi brutal vergewaltigt und ermordet wurde – ein Verbrechen, das weltweit Schlagzeilen machte. Auf Bildern der Proteste war damals unter hunderten uniformierten Männern nur eine einzige Frau zu sehen. Dieses Bild liess Sandhya Suri nicht mehr los – und wurde zum Ausgangspunkt ihrer Geschichte.
Seitdem sind Bewegungen wie #MeToo entstanden, Debatten wurden angestossen, Stimmen laut. Aber hat sich wirklich etwas verändert? Der Film gibt keine einfachen Antworten – aber er stellt die richtigen Fragen. Und zeigt, wie lang der Weg noch ist.
«Santosh» ist ab dem 22. Mai 2025 im Kino zu sehen.
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